Internationales Forschungszentrum Chamisso-Literatur
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Bericht zur Veranstaltungsreihe mit José F. A. Oliver

Lesungen, Workshops und Meisterklassen am IFC

17.03.2014

JoseFAOliverDer resignierende Stoßseufzer vieler Schülerinnen und Schüler, „mit Literatur und Sprache nichts anfangen zu können“, steht Pate für die didaktische Krux, dass Kompetenzen und Fertigkeiten nur durch ihre Performanz messbar sind, nicht aber die Fähigkeit ihrer Träger. Die individuelle Sprache jedoch benennt als nur eine Ausdrucksmöglichkeit von vielen ihre Gegenstände und der leistungsmessende Eingriff in die Persönlichkeit junger Menschen entpuppt sich vor diesem Aspekt als äußerst virulent und besorgniserregend. Der Poetikdozent des Internationalen Forschungszentrums Chamisso-Literatur (IFC) José F.A. Oliver (* 20. Juli 1961) zeigt, wie das scheinbar „Defizitäre“ im Umgang mit der deutschen Sprache produktiv in seinen Schreib- und Textwerkstätten eine generative Wendung erfährt.


In Gastvorträgen der LMU München, Schreibwerkstätten und Lesungen an der Realschule Weilheim, der Staatlichen Realschule Haag i. OB., dem Gymnasium Rosenheim sowie der FOS/BOS Straubing begegnete der Lyriker dem Wort als Verbündeten und positionierte sich dezidiert gegen den weit verbreiteten Vorwurf des unnahbaren, hermetischen Charakters lyrischen Schreibens.


Mäeutik als Unterrichtsmodell

Das Wort ist der Herzschlag der Sprache und Ausgangspunkt für jede Auseinandersetzung mit ihr. Und so war bei der Durchführung der Werkstätten die immer größer werdende Ringstruktur vom Kleinen zum Großen erkennbar, wenn der Autor den Schreibprozess wie folgt erklärt: „Aus einer Notiz entsteht ein Notat. Aus einem Notat eine Verdichtung. Aus einer Verdichtung ein Gedicht“. So wie das Wort im Satz aufgeht und dieser sich wiederum im Text auflöst, stellen auch Schreibtische, Klassenzimmer und Baupläne ganzer Schulgebäude „Begrenzungen“ dar, die der Schüler verlässt, um seine eigene Sprache zu finden, wie im Workshop an der FOS/BOS Straubing sichtbar wurde: Hat sich die Klasse im Kreis aufgestellt, erhalten die Schüler nun die Aufgabe, sich für ein Wort zu entscheiden, das für ihren aktuellen Gemütszustand von relevanter Bedeutung ist. Nun entlassen die Schüler das Wort mit unterschiedlicher Lautstärke und allen emotionalen Färbungen. Es werden Dialoge konstruiert, in denen alle Formen von Gestik, Mimik und Aussprache erlaubt sind; nur das Wort bleibt dasselbe. Danach sollen die Schülerinnen und Schüler um das Wort jeweils einen Satz bilden, den die Lehrkraft hinterher einsammelt. Ein erster Text ist somit entstanden. Die Schüler merken bei der Visualisierung an Tafel oder Folie, dass Texte sich sowohl räumlich als auch zeitlich in stetiger Veränderung befinden und Gedichte somit nicht als zeitlose Kunstwerke zu betrachten sind, sondern hinter Form und Ausdruck auch das Erarbeiten und Benennen innerer Welten ein maßgebliches Kriterium ästhetischer Schreibproduktion darstellt. Diese Aufwertung des Dichtenden als Erforscher semantischer Erschließungstechniken bildet einen der zahlreichen Grundgedanken oder – didaktisch korrekt ausgedrückt – ein Lernziel in Olivers Mäeutik, durch engagierte Schreibberatung den Schüler in die „literarische Selbstständigkeit“ zu entlassen.

Neuer Zugang zu alten Dichtern

Im Zentrum steht bei José F.A. Olivers außerdem die Verzahnung der beiden Fertigkeiten Schreiben und Lesen, wenn der Autor seine Schülerinnen und Schüler auch zum Vergleich der eigenen Verdichtungen mit der historisch anerkannten Lyrik des deutschsprachigen Literaturkanons motiviert. Auch die „Kollegen“ Brecht, Celan oder Benn sollen nach ihrer eigenen Weltinterpretation befragt werden. Aber nicht die lexikalisch gesicherte Seele, sondern die existente Sprache schlägt nun die Brücken zwischen den Schreibgenerationen und eröffnet neue Perspektiven für die produktive Erschließung historischer Texte. Die Klassikerlektüre wird in diesem Verfahren nicht mehr auf den Informationsgehalt und seine historische Relevanz seziert und diagnostiziert, sondern individuellen Schreibprozessen junger Menschen zugänglich gemacht: „Nicht die Schüler stellen sich in erster Linie dem von Professionellen verfassten, dem literarisch Geschriebenen, sondern das Schreiben wird eine Vorübung und eine gleichzeitige Beschäftigung für ein aufmerksameres, sorgfältigeres Lesen in Texten Anderer“. Ein Plädoyer, das Schule gemacht hat: Denn José F.A. Oliver ist Kurator des 1998 von ihm ins Leben gerufenen Literaturfestivals Hausacher LeseLenz und entwickelt gemeinsam mit dem Literaturhaus Stuttgart Schreibwerkstätten für Schulen, welche die Sprachsensibilität von Kindern und Jugendlichen fördern und deren Verständnis im Umgang mit der Literatur erweitern.

Über den Poetikdozenten José F.A. Oliver

Der Schriftsteller José F.A. Oliver, Adelbert-von-Chamisso-Preisträger 1997, blickt auf eine langjährige Erfahrungen zurück als Dozent für Lyrikseminare und Schreibwerkstätten im Muttersprachenunterricht und hat mit seinem kürzlich erschienen Buch Lyrisches Schreiben im Unterricht (2013) eine viel gelobte Handreichung für den Deutschunterricht veröffentlicht. José F.A. Oliver ist 2007 mit dem Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet worden und 2009 mit dem Thaddäus-Troll-Preis. 2012 erhielt er den Joachim Ringelnatz-Preis. Jüngste Publikationen sind Mein andalusisches Schwarzwalddorf (2007) und fahrtenschreiber (2010) bei Suhrkamp.

Fotos © HartmutSalmen.design

Verantwortlich für den Inhalt: Tobias Schickhaus


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